Kollektives Sitzenbleiben

Um zur Arbeit und von dort wieder nach Hause zu gelangen, bin ich täglich bis zu einer Stunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Das ist bisweilen wegen der Geräusch- und Geruchskulisse nicht unbedingt angenehm, aber für mich gegenüber dem Autofahren immer noch die bessere, kosten-, CO2- und zeitsparendere Alternative. Jedenfalls war das so, bis ich schwanger wurde.

Da in München U- und S-Bahn-Ausfälle und -verspätungen eher die Regel als die Ausnahme sind, sind die verbleibenden Bahnen besonders in den Morgenstunden entsprechened voll. Das ist für jeden Bahnfahrenden unangenehm, für mich ist es derzeit eine Tortur. Denn seit der Bauch sich ganz deutlich nach außen wölbt, finde ich es ungleich schwieriger, ihn in der vollen Bahn entsprechend vor Ellenbogen, Rucksäcken und anderweitig verursachten Quetschungen zu schützen. Von dem leichten Kreislaufflattern, dem flauen Gefühl im Magen, das ich inzwischen jedesmal spüre, wenn ich in der vollen Bahn inmitten eines Menschenkuchens stehen muss und von den ohnehin immer viel zu schweren Beinen schweige ich an dieser Stelle. Ein Sitzplatz – ja das wäre in dieser Ausnahmesituation ein echter Gewinn! Viel zu oft bleibt es aber bei dem frommen Wunsch und ich kann von Glück sagen, wenn ich stehend wenigstens eine Festhaltestange erwische.

Dass es in einer vollgestopften Bahn zur rush hour nicht „einfach so“ von freien Sitzplätzen wimmelt, ist selbstredend. Aber dass sich so selten jemand angesichts meiner deutlich erkennbaren und sichtbar herausfordernden Situation bequemt, seinen Platz herzugeben, das frustriert mich jeden Tag aufs Neue. Im Gegenteil hat der sitzende Bahnreisende zahlreiche Schutzmechanismen gegen „gehandicapte“ Mitreisende kultiviert.

Allen voran das zielgerichtete Weggucken, dass sich entweder durch aus dem Fenster starren (gerne auch in der U-Bahn!), vor sich hin starren, konzentriert lesen oder Augen schließen äußert. Blickkontakt mit der stehenden Schwangeren (oder dem stehenden alten Mann, oder, oder, oder…) wird tunlichst vermieden. Und doch ahnt man, dass nahezu alle denken -„Hm, für die Schwangere könnte ja auch mal jemand (anderes) aufstehen.“ Dass so gut wie niemand mir freiwillig seinen bereits mühevoll angewärmten Sitzplatz herschenken will, ist zwar deprimierend, aber nicht einmal besonders erstaunlich.

Wirklich erstaunlich finde ich jedoch, dass sich andere Stehende oder neu Einsteigende beim plötzlichen Freiwerden eines Sitzplatzes nicht entblöden, mir diesen selbstgefällig vor der Nase wegzunschnappen. Und das, obwohl mein Zustand wirklich nicht mehr zu übersehen ist! Leider bin ich ob meiner Leibesfülle inzwischen meistens das entscheidende bisschen langsamer. Sobald sie den Battle gewonnen haben – was nahezu immer der Fall ist – verfallen die Sitzplatzpiraten dann automatisch in das oben beschriebene Verhalten der bereits Sitzenden.

Keine Regel ohne Ausnahme. Hin und wieder ergattere ich tatsächlich einen freien Platz. Sei es, weil jemand aussteigt und ich zufällig direkt daneben stehe, weil die Bahn an manchen Haltestellen mehr Menschen ausspuckt als sie einatmet oder weil sich tatsächlich jemand ein Herz fasst und mir seinen kostbaren Platz überlässt. Und dann passiert sehr oft das Erstaunlichste überhaupt. Die vormals konzentriert wegsehenden Mitreisenden suchen plötzlich den Augenkontakt und lächeln mich gönnerhaft an, so als wollen sie sagen: „Gut, dass sie sich jetzt hinsetzen können. Stehen ist in Ihrem Zustand wirklich eine Zumutung.“

Foto: Flickr / electrobabe

Ein Kommentar

  1. Hm, also ich denke: fragen! ist die beste Lösung. Niemand wird da sitzenbleiben. Aber ich habe nicht ständig in den Öffentlichen die Belange anderer Menschen im Blick, ganz ehrlich. Auch, weil ich meist lese. Natürlich, wenn ich sehe, da gehört jemand aus welchen Gründen auch immer besser sitzend transportiert, biete ich meinen Platz an. Ansonsten kann man mich immer bitten, wenn ich es nicht raffe. Aber Wünsche von den Augen abgelesen bekommen, das klappt heute nicht in der Gesellschaft.

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